Am zweiten Weihnachtstag 1930 wurde ich geboren. Meine Kindheit auf dem Bauernhof meiner Eltern verlief zunächst
friedlich. Ich besuchte den Klosterkindergarten bei den Dominikanerinnen. In den ersten Schuljahren wurde morgens vor
Schulbeginn noch gebetet. Doch nach 1938 wurde dies abgeschafft. Es gab auch Schulen, wo das Morgengebet durch das
Absingen von Hitlerliedern ersetzt wurde. Daß dies in Arenberg nicht geschah, haben wir Männern wie Josef Weber, Franz
Brendler und Peter Klee zu verdanken, die auch die Lehrerin, Frl. Opfer und den Lehrer, Herrn Bütgen, unterstützten; sie
haben noch lange versucht, den Nationalsozialismus nicht überhand nehmen zu lassen. Lehrer Jordan hat sich dann dafür
hergegeben, die Anweisungen der NAZIS zu vollziehen. Er konnte sich dem Druck am wenigsten widersetzen. Viele
Arenberger waren "Männer der ersten Stunde" bei den NAZIS. Sie prahlten mit ihren Parteibüchern, die niedrige
Nummern aufwiesen. Damit war klar, daß sie zu den ersten Deutschen gehörten, die dieser Partei beigetreten waren. Einer
davon war Parteimitglied Nr. 27. Unser Klassenraum lag im 1. Stock rechts (von der Schulstraße aus gesehen), links
wohnte unser Klassenlehrer Bütgen. Mein Platz war vorne, und ich konnte dadurch hoch auf den Oskar-Schacht sehen.
Dabei habe ich beobachtet, wie die Loren, also die kleinen Feldbahnwagen der Grube, riesige Mengen abkippten und die
Halde immer weiter wuchs. Zu dieser Zeit wurde viel Erz gefördert. An die Weihnachtsfeier 1937 erinnere ich mich gut. Es
war das letzte Fest, an dem das Kreuz noch in der Klasse hing und die jüdischen Kinder noch unter uns in der Klasse
saßen. Nach 1938 mußten sie extra sitzen. Ich kann mich nicht erinnern, daß gegen die jüdischen Kinder in der Schule
Haß aufkam. Sie wurden hier nicht beschimpft. Uns Kindern hat es nur. leidgetan als Kinder von 7-8 Jahren wenn man
Hetzparolen verbreitete und ausgesprochen hat. Bis die unglückselige Nacht kam, die "Kristallnacht" am 9.11.1938, in der
man den Juden sehr weh getan hat. Auch in Arenberg war die judenfeindliche Stimmung schon vorher spürbar. In dieser
Nacht wurden die Judenhäuser gestürmt, die Juden aus den Betten auf die Straße getrieben und ihre Einrichtung sowie
Fenster und Türen beschädigt. Allerdings reichte die Macht der NAZIS noch nicht, um die Juden endgültig zu vertreiben.
Dies geschah im Winter 1942. Als wir morgens zur Schule gingen, waren die Häuser leer. Es hieß: Die Juden sind
ausgewandert- sie waren "einfach weg". Ihr Besitz wurde eingezogen, es wurde zu Volksvermögen. Bevor die Juden
abgeholt wurden, also ab 1941, mußten sie den (gelben) Davidstern mit der schwarzen Aufschrift "JUDE" tragen, der an
die Kleidung angenäht sein mußte; zunächst trugen sie ihn noch versteckt, später wurden sie gezwungen, den Stern offen zu
zeigen. Aber die Exklusion, das Ausgestoßensein, haben die Juden während der ganzen Zeit empfunden. Sie durften in den
Arenberger Geschäften nichts mehr kaufen, auch den Bauern war es verboten, Lebensmittel an Juden zu verkaufen, und
Juden durften nicht mehr beschäftigt werden. Die Drohung: "Wer Juden hilft, wird selbst verhaftet" saß jedem im Nacken.
1942 spitzte sich alles zu. Am 12.12.42 wurde in Berlin unter Himmler die "Endlösung" beschlossen. In diesem Herbst
haben sich auch in Arenberg die jüdischen Mitbürger in ihren Wohnungen verkrochen. Eine Jüdin, nämlich Frau Michel, bat
meinen Vater, ihrem Sohn Bernhard Arbeit zu geben. Er durfte mit uns Knollen (Rüben) einsammeln. Wir haben ihm Geld,
Essen und Kleidung gegeben, auch für seine Eltern. Dies alles mußte heimlich geschehen. Auch seine Arbeit bei uns. So
kam er bereits früh, wenn es noch dunkel war, und schlich abends bei Dunkelheit über die Felder nach Hause. Über die
Straße konnte er nicht gehen, sonst wären Spitzel mißtrauisch geworden. Leider waren wir machtlos. Alle Menschen
spürten die Spannungen. Juden wurden als Unmenschen bezeichnet. Zeitungen kamen ins Haus mit Karikaturen der Juden.
Propagiert wurde die blonde, blauäugige, große Arierrasse. Zu dieser Zeit war ich elf Jahre alt. Furchtbar hat es mich als
Kind bedrückt, als am 22.6.1941 der Krieg gegen Rußland begann, gegen dieses große, mächtige Land. Der Winter hat
die Armee kurz vor Moskau auf gehalten und zurückgeschlagen, weil die deutsche Armee nur eine schlechte Ausrüstung
gegen diese Kälte besaß. Spätsommer 1942 bis Winter, Anfang 1943 - Stalingrad - und der Krieg war verloren. Aber das
durfte niemand sagen, sonst kam man ins Konzentrationslager. Stalingrad war eine Wende in der Geschichte. Elitetruppen
wurden geopfert - sie litten unter Hunger und Kälte in diesem weiten Land. Heute kann man nur ahnen, was dort geschah,
aber wir haben das als junge Menschen mitempfunden. Uns begleitet dies ein Leben lang. Am 6.6.1944 begann die
Invasion der Alliierten in der Normandie (Dday). Unsere Soldaten mußten sich trotz starkem Widerstand auf die deutsche
Grenze zurückziehen. Am 16.12.1944 brach der letzte deutsche Sturm los, aber er war vergebens. 76 000 Alliierte
starben, doch durch Lufthoheit und ihre Übermacht blieben die Alliierten Sieger. Die Luftangriffe auf Arenberg begannen
am 20. Juli 1944. Der zweite große Angriff fand am 25.9.44 (19.09) statt. Berichten möchte ich vom 3. Großangriff am
10.12.44. Schon seit Tagen fanden Truppenbewegungen von der Fritsch-Kaserne (Ehemalige Flackkaserne in Niederberg)
aus statt. Sie standen im Zusammenhang mit der bevorstehenden Offensive im Westen. Dies blieb den Aufklärungsfliegern
nicht verborgen. Am 2. Adventssonntag, einem kalten Dezembermorgen, wurde die gesamte frühere Straße von der
heutigen Bushaltestelle bis zur Fritsch-Kaserne dauernd beidseitig von britischen Bombern mit kleinen Spreng- und
Brandbomben beworfen. Eine dieser Bomben fiel in die linke hintere Ecke des Schulgebäudes beim kleinen Schulhof. Die
gesamte Rückwand - unten Klassenraum, oben Wohnung - bis zum Treppenhaus war eingedrückt und zerstört. Im Keller
saßen junge, 16 jährige Soldaten an dieser Wand. Sie starben fast alle bei diesem Angriff. Beerdigt wurden sie in einem
Massengrab auf dem Arenberger Friedhof hinter dem Kriegerdenkmal. Die Zivilisten saßen an der Wand zur Straße hin,
also auf der anderen Seite. Ein Soldat hatte ein Mädchen beschützt, indem er sich über sie geworfen hat. Doch ein anderes
Mädchen mußte sterben. Insgesamt starben 18 Menschen, die sich hier aufgehalten hatten. Es gab viele Verletzte. Pfarrer
Leclerc eilte herbei, um die Sterbesakramente zu geben, doch ein weiterer schwerer Angriff zwang ihn, im Graben neben
der Schulstraße Schutz zu suchen. Von der Volksschule Arenberg war ich 1942 direkt in die Quinta (= 6. Klasse) des
Gymnasiums gewechselt. Die Schule am (Heutigen) Friedrich-Ebert-Ring, damals Kaiser-Wilhelm-Ring, wurde im
September 1944 geschlossen, weil die Front immer näher kam. Alle wurden in der Stadthalle, dort wo heute das
Scandic-Hotel steht, unterrichtet. Am 25.9.44 hatte ich morgens verschlafen. Ich fuhr mit der Straßenbahn. In Niederberg,
am Brunnen, mußten wir aussteigen und in den Stollen laufen, weil vom Westen her ein Luftangriff bevorstand. Ein weiterer
Bomber kam von Süd-Westen. Er wurde von der Kreuzberger Flak in Ehrenbreitstein abgedrängt und entlud seine
Bomben ab Immendorf vom Gebiet Auf‘m Roth (Reuschweg) über den Spieß bis an die Weidwiese oberhalb von
Arenberg. Bei dem Luftangriff aus Westen wurde auch die Stadthalle getroffen. Zwei meiner Klassenkameraden waren tot,
drei verletzt. Ich hatte das Glück, daß ich bei diesem Bombenangriff nicht dabei war, weil ich verschlafen hatte. Danach
wurde die Schule geschlossen. Die Bombenangriffe wurden immer schlimmer, am 6.11.1944 nach 17 Uhr erfolgte der
stärkste Angriff auf Koblenz. Auch Brand- und Phosphorkanister wurden geworfen. Das Brennen war furchtbar. Der helle
Himmel in der dunklen Nacht - das Inferno war weit zu sehen - Koblenz verbrannte. Ein Phosphorbrandkanister traf in
Arenberg an jenem Abend die Scheune von Bauer Schneider, die bis auf die Grundmauern verbrannte. Bis zum März
gelang den Alliierten der Durchbruch zum Rhein. Von den Deutschen wurden die Brücken -Pfaffendorfer, Schiffbrücke,
Engerser Eisenbahnbrücke- gesprengt: damit wurden die fremden Truppen aufgehalten. Doch das für die Sprengung der
Eisenbahnbrücke bei Erpel zuständige Sprengkommando hat die Sprengung verweigert. Sie wurden deshalb im
Westerwald auf Befehl des Führers exekutiert, also hingerichtet; Ausspruch Hitlers: Das Rheinland hat mich verraten. Über
diese Brücke bei Erpel kamen die Amerikaner. Am Passionssonntag, dem 18.3.1945, waren sie bereits in Koblenz. Am
Nachmittag des 26.3.45 habe ich vom Caritashaus aus die Truppenbewegungen über die Simmerner Straße Richtung
Neuhäusel beobachtet. Am nächsten Tag rückten die amerikanischen Truppen von Neuhäusel aus nach Arenberg,
Niederberg und Ehrenbreitstein vor. Damit ist klar, daß wir unser Leben und den Erhalt unserer Heimat den Soldaten zu
verdanken haben, die den Ungehorsam gegen das Hitlerregime gewagt und dies mit ihrem Leben bezahlt haben. Sonst wäre
die rechte Rheinseite tagelang von der Karthause aus beschossen und alle Häuser in Arenberg zerstört worden. Bis zwei
Tage vor dem Einmarsch war die SS noch in Arenberg. In allen Stollen wurde nach Personen gesucht, die man zum
"Volkssturm" einziehen könnte. Auch Kinder und Jugendliche sind hiervon betroffen. Sie wurden als Kanonenfutter benutzt
und müssen noch in den letzten Kriegstagen sinnlos sterben. Um mich dem Zugriff der SS zu entziehen, hatte ich mich in den
Caritasstollen, der in den Berg an der Süd-West-Ecke Richtung Rheinblick getrieben war, zurückgezogen. Der notwendige
Luft- oder Bewetterungsschacht befand sich etwas unterhalb dem heutigen Wendeplatz Rheinblick. Am 23. März 1945
stand ich vor dem Stollen und sah zwei SS-Leute und einen Denunzianten über den Sportplatz kommen, die den Stollen
durchsuchen wollten. An Schwestern, Verwundeten und Kriegslungenkranken vorbei bin ich durch den Luftschacht ca. 10
m hoch hinausgeklettert. Niemand im Stollen hat mich verraten. Oben im Luftschacht hielt ich mich auf, die Arme
auseinandergespreizt, um nicht wieder hinabzurutschen, bis ich die Männer wieder weggehen sah Richtung
Kastanienbrücke. Die Kastanienbäume waren zu dem Zeitpunkt stark zerstört, beschossen von der Karthause aus, weil
hier die Versorgungszüge zur Festung Ehrenbreitstein und zurück mit Material und Verpflegung entlangkamen. Wie ein
Soldat robbte ich an diesem hellen, sonnigen Tag über die Wiesen, die Glück mit hohem, trockenem Gras bewachsen
waren. So wurde ich nicht entdeckt, als ich unter den Stacheldrahtzäunen hindurchrobbte. Abends bei Dunkelheit kam ich
bei der Landwirtschaft der Caritas, die damals noch Schweine und 3 Kühe besaß, an. Dreckig und vermatscht wie ich war,
versteckte ich mich am Misthaufen. Hier fand mich die Ökonomieschwester und versteckte mich in der Haferkiste. Nachts
nahm sie mich unter ihrem Mantel und brachte mich hinter den Heizkessel des Caritashauses. Die Heizung war natürlich
nicht an. Ich bin vor Erschöpfung in meinen nassen Kleidern eingeschlafen. Gegen Mitternacht schreckte ich von einem
lauten Knall hoch. Der ganze Staub und Putz des Raumes fiel über mich. Der Schlag war sehr heftig. Doch ich traute mich
nicht heraus. Am nächsten Morgen habe ich die Ursache gesehen: unmittelbar vor der Wand, an der ich nachts schlief, lag
eine Artillerie-Granate. Sie war nicht explodiert, weil die Zündnadel verklemmt wurde, als die Zündkapsel schräg gegen die
Erkermauer gedrückt und so die Granate zum Blindgänger wurde. Sonst ware ich in jener Nacht vielleicht gestorben. Wie
schnell hat sich gerade Koblenz, die zerstörte Stadt, nach dem Krieg erholt. Zwar herrschte in den kalten Wintern 1946/47
Hungersnot und alles Brennbare wurde abgeholzt und verwertet. Es gab den Druck der französischen Besatzung, die alles
mögliche (Vieh, Getreide, Kartoffeln) beschlagnahmt und weggeholt haben. Doch nach der Währungsreform am 21.6.1948
und der Gründung der Bundesrepublik ging es mit Kanzler Adenauer aufwärts. Die Menschen leisteten viel, es gab kein
Anspruchsdenken. Der Schutt wurde mittels Loren zum Oberwerth weggeräumt. Wir hatten nur eines im Sinn: Das
Schlimme so gut wie es geht vergessen und neu anfangen für eine bessere Welt -eine gute Welt für unsere Kinder - mit dem
Gedanken, daß ihnen eine so schreckliche Zeit, wie wir sie in unserer Kindheit und Jugend durch dieses totalitäre System
erfahren mußten, nie widerfahren sollte.
Willi Birkenbeil